Die meisten von euch sehen sich selbst ganz klar als Persönlichkeit und die Realität von euch selbst als Person ist sehr tief verwurzelt. Der Begriff sakkaya-ditthi kann übersetzt werden als „Persönlichkeitssicht“ oder „Ego“. Damit ist die Vorstellung gemeint, die wir in Bezug auf unsere Identität mit den fünf khandhas (Gruppen) haben: dass der Körper, die Gefühle, die Wahrnehmungen, die Konzepte und das Bewusstsein zu dieser Person gehören.

Wenn wir das untersuchen, greifen wir aber nicht nach der Vorstellung, „keine Person“ zu sein. Wir können das Konzept von anatta (Nicht-Selbst) ergreifen und sagen: „Da ist kein Selbst, weil der Buddha gesagt hat, es ist anatta!“, aber dann ergreifen wir auch eine Vorstellung. Eine Vorstellung von dir selbst als ein Nicht-Selbst zu ergreifen, wird ein bisschen lächerlich! Vorstellungen zu ergreifen ist nicht der Weg. Wenn du irgendwelche Bedingungen erschaffst und sie ergreifst, wirst du als Ergebnis immer das gleiche haben: Leiden. Glaube auch mir nicht einfach, dies ist zu deiner Erforschung.

Anstatt mit einer Vorstellung oder einem Konzept von etwas zu beginnen, etablierte der Buddha einen Weg durch Gewahrsein, durch wache Aufmerksamkeit. Das ist ein immanenter Akt in der Gegenwart. Du kannst die Idee der wachen Aufmerksamkeit ergreifen und sie immer wiederholen, aber der einfache Akt, aufmerksam zu sein, ist alles, was notwendig ist. Da ist diese Aufmerksamkeit, sati-sampajañña, ein intuitives Gewahrsein, in dem das Bewusstsein mit dem gegenwärtigen Augenblick ist: „So ist es.“ Es ist der Anfang, sakkaya-ditthi und die Vorstellungen zu erforschen, wie du dich selbst wahrnimmst und an denen du haftest.

Deshalb betone ich immer wieder, sich selbst absichtlich als Person wahrzunehmen: „Ich bin diese Person, die praktizieren muss, um erleuchtet zu werden.“ Nimm einfach etwas wie: „Ich bin eine unerleuchtete Person, die hier nach Amaravati gekommen ist, um Meditation zu üben, so dass ich eine erleuchtete Person in der Zukunft werde.“ Du kannst Kommentare darüber abgeben oder weitere Vorstellungen darüber haben, aber das ist nicht der Punkt. Denke absichtlich: „Ich bin eine unerleuchtete Person…“

Sag dies absichtlich zu dir selbst, aufmerksam und zuhörend. Dieses absichtliche Denken erlaubt uns, uns selbst zuzuhören, während wir denken. Wenn du gefangen bist im umherwandernden Geist, verlierst du dich; du gehst einfach von einem Gedanken zum nächsten. Ein Gedanke verbindet sich mit dem nächsten und du wirst davon getragen. Aber absichtliches Denken ist nicht wie umherwanderndes Denken, oder? Es ist absichtlich, weil du wählst, was du denken willst. Das wichtige ist nicht der Gedanke, ob er dumm ist oder intelligent, richtig oder falsch. Das wichtige ist die Aufmerksamkeit, die Fähigkeit, dem absichtlichen Denken zuzuhören.

Person oder Gewahrsein?

Was passiert, wenn ich mir des Denkens in dieser Weise bewusst bin (und ich nehme an, es wird auch dir passieren – ich weiß nicht, vielleicht bin ich ja eine Ausnahme!), ist, dass bevor ich „Ich bin eine unerleuchtete Person…“ zu denken anfange, dort ein Raum ist. Dort ist eine leere Pause, bevor du absichtlich denkst. Nimm das wahr. Es ist einfach wie es ist; dort ist keine Vorstellung in diesem Raum, aber dort ist Aufmerksamkeit, dort ist Gewahrsein. Du bist dir dessen sicherlich bewusst, bevor „Ich bin eine unerleuchtete Person…“ erscheint.

Darüber zu reflektieren ist nicht umherwanderndes Denken, es ist kein Beurteilen oder Analysieren, sondern ein einfaches Erkennen: “So ist es.” Wenn du also absichtlich denkst, kannst du das denken benutzen, um darauf hinzuweisen, auf das, wie es jetzt ist. Mit dem Pronomen „Ich“ in einem Satz wie „Ich bin eine unerleuchtete Person…“, wirst du erkennen, dass du dieses Bewusstsein von dir durch diese Worte, die du absichtlich denkst, selbst erschaffst.

Ajahn Sumedho

Ajahn Sumedho

Das, was sich deines Denkens gewahr ist, was ist das? Ist das eine Person? Ist es eine Person, die gewahr ist? Oder ist es reines Gewahrsein? Ist dieses Gewahrsein persönlich oder erscheint die Person in diesem Gewahrsein? Das ist erforschen, untersuchen. Indem du untersuchst, wirst du erkennen, wie es wirklich ist, das Dhamma: da ist keine Person, die gewahr ist, sondern das Gewahrsein umschließt das, was persönlich aussieht.

“Ich bin eine unerleuchtete Person, die praktizieren muss, um eine erleuchtete Person in der Zukunft zu werden.“ Wir nehmen an, „Ich bin dieser Körper, mit dieser Vergangenheit. Ich habe diese Geschichte. Ich bin so und so alt, geboren in dem Ort. Ich habe all diese Dinge getan und deshalb habe ich diese Geschichte, die beweist, dass diese Person existiert.” Ich habe einen Pass und eine Geburtsurkunde, und Menschen wollen, dass ich eine Webseite im Internet habe! Aber im Gewahrsein scheint da wirklich keine Person zu sein.

Ich finde, dass meine persönliche Vergangenheit völlig uninteressant wird, je mehr ich gewahr bin. Sie bedeutet tatsächlich nichts mehr. Sie sind nur ein paar Erinnerungen, die auftauchen können. Aber vom persönlichen Standpunkt aus gesehen, wenn ich in mir selbst gefangen bin und über mich als echte Persönlichkeit nachdenke, dann finde ich meine Vergangenheit plötzlich wichtig. […]

Das Gefühl einer Persönlichkeit hängt sehr stark davon ab, zu beweisen, dass du jemand bist, deine Erziehung, deine Herkunft, deine Erfolge oder Misserfolge, ob du eine interessante oder uninteressante Person bist, wichtig oder unwichtig, eine sehr wichtige Person oder eine sehr unwichtige Person!

In der Meditation versuchen wir nicht, die Persönlichkeit zu verleugnen. Wir versuchen, uns nicht zu überzeugen, dass wir keine Menschen sind, und Ideen wie „Ich habe keine Nationalität, kein Geschlecht, keine Herkunft. Das pure Dhamma ist meine wahre Identität“ zu ergreifen. Das ist immer noch eine andere Identität, oder? Das ist es nicht. Es geht nicht darum, das Konzept des Nicht-Selbst zu ergreifen. Es geht darum zu realisieren, durch wache Aufmerksamkeit wahrzunehmen, wie die Dinge wirklich sind. […]

Gewahrsein ist wie nichts

Ich fand diese Übung sehr aufschlussreich. Wenn ich diese Übung machte, wurde deutlich, was Gewahrsein ist – sati-sampajañña, Achtsamkeit, Gewahrsein, ohne Vorstellungen (apperception). Dann entstehen das Denken und die Vorstellungen. Also denke absichtlich und „Ich bin eine unerleuchtete Person…“ erscheint im Gewahrsein. Dieses Gewahrsein ist keine Vorstellung, nicht wahr? Es ist ohne Vorstellungen, beinhaltet aber Vorstellungen und Wahrnehmungen. Vorstellungen entstehen und vergehen.

Das Gewahrsein ist nichts persönliches, es hat keine Ajahn Sumedho-Qualität in sich, es ist nicht männlich oder weiblich, bhikkhu (Mönch) oder sãladharà (Nonne), oder irgendetwas in diese Richtung. Es hat keine Qualität auf der gewöhnlichen, konventionellen Ebene. Es ist wie nichts, wie nichts.

Dieses Gewahrsein – „Ich bin eine unerleuchtete Person…“ – und dann nichts, da ist keine Person. Du erforschst und untersuchst also diese Lücken vor dem „Ich“ und nach dem „Ich“. Du sagst „Ich“ – und dann ist da sati-sampajañña, der Klang der Stille, oder? „Ich bin“ erscheint in diesem Gewahrsein, diesem Bewusstsein. Das kannst du anzweifeln, während du es untersuchst.

Dieses Gewahrsein ist nichts Erschaffenes, oder? Ich erschaffe das „Ich bin…“. Was wirklicher ist als „Ich bin eine unerleuchtete Person“ ist dieses Gewahrsein, sati-sampajañña. Das ist das Beständige, es ist das, was bleibt. Die Vorstellung von dir als Person kann sich in jede beliebige Richtung bewegen.

Nur Gewahrsein ist eine verlässliche Zuflucht

Während du über dich nachdenkst und darüber, wer du bist, wer du sein solltest, wer du sein möchtest, wer du nicht sein willst, wie gut oder schlecht, wunderbar oder schrecklich du bist – all das wirbelt überall herum. In einem Augenblick fühlst du, „Ich bin wirklich eine wunderbare Person“, und im nächsten Moment kannst du fühlen, „Ich bin eine absolut hoffnungslose, schreckliche Person“.

Aber wenn du Zuflucht zum Gewahrsein nimmst, dann macht es keinen großen Unterschied, was immer du denkst. Deine Zuflucht ist in der Fähigkeit zum Gewahrsein, anstatt in den Wendungen und Schwankungen der Persönlichkeitssicht, deinen sakkaya-ditthi-Gewohnheiten. […]

Wir können uns zu großem Altruismus erheben und dann von einer auf die andere Sekunde in die niedersten Zustände absinken. Eine Person zu sein, egal welcher Art, ist ein absolut nicht vertrauenswürdiger Zustand. Sogar die Meinung zu haben, „Ich bin ein guter Mönch“ ist eine ziemliche trickreiche Zuflucht. Wenn das alles ist, was du weißt, und jemand sagt, dass du kein sehr guter Mönch bist, dann bist du verärgert, fühlst dich verletzt und angegriffen.

Sati-sampajañña, trotz all der Schwankungen, ist konstant. Deshalb sehe ich es als Zuflucht an. Wenn du es erkennst, realisierst und wertschätzt, dann ist es das, was ich eine Zuflucht nenne, denn eine Zuflucht ist nicht abhängig von Lob und Tadel, Erfolg oder Scheitern. […] Im reinen Gewahrsein ist kein Selbst, es ist einfach so. Lerne, dich dort hinein zu entspannen und darin zu vertrauen, aber versuche nicht, daran festzuhalten. […]

Die Zuflucht liegt im Erwachen zur Realität, weil das Nicht-Bedingte die Realität ist. Dieses Gewahrsein, diese Wachheit, ist das Tor zum Nicht-Bedingten. Wenn wir erwachen, ist da das Unkonditionierte, diese Wachheit. Die Bedingungen sind, wie immer sie sind – stark oder schwach, angenehm oder schmerzhaft, wie auch immer. […]

Wir denken, dass diese Person hier ein Arahant oder ein Stromeingetretener ist. Das ist einfach die Art, wie der konditionierte Geist funktioniert. Er kann nicht anders, er kann nichts anderes tun als das. Also kannst du ihm nicht vertrauen. Du kannst keine Zuflucht in deine Gedanken oder Wahrnehmungen nehmen, aber in das Gewahrsein. Es sieht nicht nach irgendetwas aus, es sieht nach nichts aus – aber es ist alles. Alle Probleme werden genau hier gelöst! […]

Diese Wachheit ist nichts Erschaffenes, sie ist ein immanenter Akt von Aufmerksamkeit in der Gegenwart. Deshalb ist das Entwickeln des absichtlichen Denkens „Ich bin eine unerleuchtete Person…“ einfach ein hilfreiches Mittel, um wirklich bewusster und kontinuierlicher wahrzunehmen, wie es ist, achtsam zu sein, und zur gleichen Zeit Gewahrsein da ist, wo du dich selbst als Person in irgendeiner Form erschaffst.

Das Ende des Leidens ist jetzt

Du bekommst dieses Empfinden, dass deine Selbst-Wahrnehmung definitiv ein mentales Objekt ist; es kommt und geht. Du kannst „Ich bin eine unerleuchtete Person…” nicht aufrechterhalten. Wie willst du das aufrechterhalten? Indem du es die ganze Zeit denkst? Wenn du die ganze Zeit herumliefest und sagen würdest, „Ich bin eine unerleuchtete Person…”, würden sich dich in die Psychiatrie schicken. Es entsteht und vergeht, aber das Gewahrsein bleibt aufrechterhalten. Das Gewahrsein ist nicht erschaffen, es ist nicht persönlich, aber es ist wirklich.

Nimm auch das Ende wahr, wenn „Ich bin eine unerleuchtete Person…“ aufhört. Dann ist da diese klingende Stille, da ist Gewahrsein. Bedingungen entstehen und vergehen immer jetzt in der Gegenwart. Das Ende ist jetzt. Das Ende der Bedingungen ist jetzt. Das Ende der Welt ist jetzt. Das Ende des Selbst ist jetzt. Das Ende des Leidens ist jetzt. […]

So lange wie du der Ansicht bist, “Ich bin noch nicht weise genug, aber ich hoffe, weise zu werden”, wird du Kummer, Leiden, Verzweiflung und Schmerz erleben. Es ist so direkt. Lerne zu vertrauen, die Weisheit jetzt zu sein, wach zu sein. Auch wenn du dich dafür emotional völlig unreif fühlst, zweifelnd oder unsicher, ängstlich oder erschrocken bist – Emotionen sind einfach so. Aber sei das Gewahrsein der Emotionen: „Emotionen sind so“. […]

Gewahrsein schließt diese Gefühle als mentale Objekte (àrammaõa) ein, und nicht als Subjekte. Wenn du das nicht weißt, tendierst du dazu, dich mit deinen Gefühlen zu identifizieren und deine Gefühle werden zu dir selbst. Du wirst dieses emotionale Ding, das sich fürchterlich aufgeregt hat, weil die Welt dich nicht genug respektiert hat.

Unsere Zuflucht liegt in der todlosen Realität und nicht in den vergänglichen und unsicheren Bedingungen. Wenn du dem Gewahrsein vertraust, dann können das Selbst und Emotionen über dich selbst, was immer sich auch sein mögen, gesehen werden als das, was sie sind; nicht verurteilend, nicht ein Problem aus ihnen machend, sondern einfach wahrnehmend: „So ist es.“

Quelle: Ajahn Sumedho “Intuitive Awareness”, S. 97-110, eigene Übersetzung