Bei der Nicht-Identifikation hören wir auf, das Erleben als „Ich” oder „mein“ zu betrachten. Wir erkennen, wie unsere Identifikation Abhängigkeiten schafft, Ängste und fehlende Authentizität. Wenn wir Nicht-Identifikation praktizieren, erforschen wir jeden Zustand, jede Erfahrung, jede Geschichte mit der Frage: „Ist das, was ich wirklich bin?“

Wir erkennen den provisorischen Charakter dieser Identität. Anstatt sich mit diesen Schwierigkeiten zu identifizieren, lassen wir los und ruhen im Gewahrsein selbst. Das ist der Höhepunkt der Auflösung von Schwierigkeiten durch RAIN [Recognition (Erkennen), Acceptance (Akzeptieren), Investigation (Erforschen), Non-Identifikation (Nicht-Identifikation), I.Z.].

David, ein praktizierender Buddhist, sah sich selbst als Versager an. In seinem Leben gab es viele Enttäuschungen, und nach einigen Jahres buddhistischer Praxis war er auch von seiner Meditation enttäuscht. Er wurde ruhiger, aber das war alles. Weiterhin wurde er von unerbittlichen, kritischen Gedanken und Selbstvorwürfen geplagt, die Überreste einer rauen und schmerzhaften Vergangenheit waren. Er identifizierte sich mit diesen Gedanken und seiner verwundeten Geschichte. Selbst die Praxis des Mitgefühls für sich selbst brachte ihm wenig Erleichterung.

Jack Kornfield

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Dann wurde er während eines zehntägigen Achtsamkeits-Retreats von den Lehren der Nicht-Identifikation inspiriert. Er wurde berührte von den Geschichten derer, die ihren Dämonen ins Gesicht geschaut und sich selbst befreit hatten. Er erinnerte sich an die Geschichte des Buddha, der sich in der Nicht seiner Erleuchtung seinen eigenen Dämonen stellte in der Form von Armeen und Verführungen von Mara.

David beschloss, die ganze Nacht aufzubleiben und sich direkt seinen Dämonen zu stellen. Stundenlang versuchte er, achtsam seinen Atem und seinen Körper wahrzunehmen. Bei jeder Sitzmeditation überkamen ihn bekannte Wellen von Schläfrigkeit, körperlichen Schmerzen und kritischen Gedanken. Dann begann er wahrzunehmen, dass jede sich wandelnde Erfahrung von einem gleich bleibenden Element empfangen wurde: Gewahrsein selbst.

Mitten in der Nacht hatte er ein Aha-Erlebnis. Er erkannte, dass das Gewahrsein von keiner dieser Erfahrungen beeinträchtigt wurde, dass es offen und unberührt war wie der Raum selbst. All seine Kämpfe, die schmerzhaften Gefühle und Gedanken, kamen und gingen, ohne die geringste Störung im Gewahrsein selbst zu bewirken. So wurde das Gewahrsein sein Zufluchtsort.

David entschied sich, diese Erkenntnis zu testen. Der Meditationsraum war leer, also rollte er sich auf den Boden. Gewahrsein nahm es einfach wahr. Er stand auf, schrie, lachte und machte lustige Tierlaute nach. Gewahrsein nahm es einfach wahr. Er lief im Raum herum, er legte sich ruhig hin, er ging hinaus an den Waldrand, nahm einen Stein und warf ihn, hüpfte auf und ab, lachte, kam zurück und setzte sich erneut zur Meditation hin. Gewahrsein nahm all das einfach wahr.

Als er das herausgefunden hatte, fühlte er sich frei. Er beobachte, wie die Sonne sanft über den Hügeln aufging. Dann legte er sich eine Weile zum Schlafen hin. Und als er wieder erwachte, war sein Tag voller Freude. Sogar als seine Zweifel zurückkehrten, nahm das Gewahrsein sie einfach wahr. Wie der Regen erlaubte sein Gewahrsein alle Dinge gleichermaßen.

Es wäre zu schön, wenn die Geschichte hier zu Ende wäre. Später im Retreat fiel David wieder für einige Zeit in Zweifel, Selbstvorwürfe und Depressionen zurück. Doch nun konnte er selbst mitten in diesen Gefühlen erkennen, dass es einfach nur Zweifel waren, nur Selbstvorwürfe, nur Depressionen. Er konnte sie nicht mehr vollständig als seine Identität ansehen. Gewahrsein nahm auch dies wahr. Und es blieb still und frei.

Der Buddhismus nennt die Nicht-Identifikation den Wohnsitz des Erwachens, das Ende der Anhaftung, wahren Frieden, Nirwana. Ohne Identifikation können wir mit Fürsorge leben, aber wir sind nicht länger an die Ängste und Illusionen unseres kleinen Selbstgefühls gebunden. Wir sehen die versteckte Schönheit hinter allem, dem wir begegnen.

Achtsamkeit und furchtlose Präsenz bringen wahren Schutz. Wenn wir der Welt mit Erkennen, Akzeptieren, Erforschen und Nicht-Identifikation begegnen, entdecken wir, dass Freiheit möglich ist, wo immer wir auch sind. Genauso, wie der Regen auf alle Dinge gleichermaßen fällt und sie nährt.

Quelle: Jack Kornfield „Doing the Buddha’s Practice“, S. 44-45, eigene Übersetzung